Sechs Vorurteile über Behinderung
1. „Behinderung“ darf man nicht mehr sagen! Das heißt jetzt „Mensch mit besonderen Bedürfnissen“
Die Diskussion über diese Wortwahl ist für mich unerträglich, denn ich bezeichne mich selbst als „behindert“. Ich habe keine „besonderen Bedürfnisse“, ich esse und schlafe und gehe zur Toilette wie jeder andere Mensch auch. Anstatt über eine angemessene Bezeichnung nachzudenken, sollte man dafür sorgen, dass Menschen mit Behinderung sichtbarer werden.Seien wir doch mal ehrlich: wieviele Personen mit Behinderung sieht man beim Stadtbummel, beim Einkaufen, in der Bank, in der Fernsehwerbung, in der Arbeit? Laut Statistik Austria leben in Österreich etwa 760.000 Menschen mit registrierter Behinderung. (Quelle: Menschen mit Behinderungen in Österreich II: Demographische Merkmale von Personen mit registrierter Behinderung, 2022). Wo sind die alle? Und wenn man, selten genug, welche sieht, sind es meistens die, die man eh schon kennt. Der Mann mit dem schiefen Gesicht, der jeden Tag am Straßenrand steht und die vorbeifahrenden Autos grüßt. Das Mädchen mit Down Syndrom, das immer so freundlich lächelt. Der Arbeitskollege, der an den Rollstuhl gefesselt ist (der – nebenbei bemerkt – keineswegs „gefesselt“ ist, sondern den Rollstuhl als Hilfsmittel nutzt, um mobil zu sein.)
2. Du leidest an einer Behinderung? Respekt, ich könnte das nicht.
An einer Behinderung „leidet“ man nicht. Mit einer Behinderung lebt man. Und damit leben kann jeder Mensch. Er kann sich nämlich nicht einfach in Luft auflösen und verschwinden. Wer von Geburt an oder im Laufe seines Lebens eine körperliche, geistige oder psychische Einschränkung hat, bekommt keine andere Möglichkeit und keine andere Wahl, als damit zu leben. Ob er jedoch auch daran „leidet“, ist seine höchstpersönliche Entscheidung.
Ich darf für mich behaupten: ich „leide“ in keinster Weise. Ich genieße mein Leben wie jeder andere Mensch auch. Ich führe meinen Haushalt, ich arbeite, ich fahre Auto, ich mache Urlaub, ich gehe meinen Hobbys nach, ich treffe meine Freunde. Viele Dinge laufen bei mir allerdings anders ab, als die meisten Menschen es gewohnt sind. Der Weg ist ein anderer, das Ziel ist das gleiche.

3. Du hast eine Behinderung? Das kann nicht sein, man sieht ja gar nichts.
Nicht alle Behinderungen sind sichtbar, wie z.B. Gehörlosigkeit. Trotzdem sind sie vorhanden. Den Betroffenen hilft es auch nicht, ihre Einschränkungen zu kommentieren, gute Ratschläge zu geben, oder eigene Erfahrungen mitzuteilen: „Ach, du musst eine Diät halten? Das kenne ich, das habe ich auch mal gemacht.“ – Nein, das kennst du nicht! Der Unterschied ist nämlich: du hast die Diät freiwillig gemacht, vielleicht für einige Wochen. Ich muss hingegen 50 oder 60 oder 70 Jahre lang Diät halten, weil mein Leben davon abhängt.4. Barrierefreiheit bedeutet, eine Rampe und einen Lift zu haben
Da es auch andere Behinderungsarten als körperliche Behinderungen gibt (z.B. Sinneseinschränkungen wie Gehörlosigkeit oder Blindheit), bedeutet Barrierefreiheit weit mehr, als einen Lift oder eine Rampe zu bauen. Manchmal ist eine Rampe zwar gut gemeint, aber nicht gut gemacht, wie man auf dem folgenden Bild erkennen kann.

Jeder und jede von uns kann etwas zur Barrierefreiheit beitragen. So hilft es beispielsweise schon, auf dem Boden befindliche taktile Leitlinien freizuhalten und Wahlwerbung, Koffer, Kinderwagen etc. dort nicht abzustellen. Es hilft, den Behindertenparkplatz nicht zu benutzen, auch wenn man nur für 5 Minuten dort parkt und eh gleich wieder weg ist. Hilfreich ist es auch, Verkehrsschilder oder Werbeplakate hoch genug aufzuhängen, damit sich Menschen mit Sehbehinderung nicht den Kopf daran stoßen.
Ich bin kleinwüchsige Rollstuhlfahrerin und kann mit Krücken einige Schritte gehen. Barrierefreie Toiletten sind für mich vielfach nicht nutzbar, weil die Klomuschel zu hoch angebracht ist und ich mich nicht hoch genug anheben kann, um auf die Toilette zu „klettern“. Was das im Alltag bedeutet, kann kein Mensch ermessen, der nicht selbst behindert ist. Es bedeutet, dass ich so wenig wie möglich trinke, weil ich nie weiß, wo ich die nächste „passende“ Toilette vorfinde. Es bedeutet, dass ich fremde Menschen bitten muss, mich auf die Toilette zu setzen. Ich kenne keinen Architekten, der ein barrierefreies WC plant und sich hinterher in den Rollstuhl setzt, um auszuprobieren, ob er das, was da nach seinen Plänen gebaut wurde, auch tatsächlich mit einem Rollstuhl nutzen könnte. Er hält sich einfach an seine Vorgaben und Vorschriften, ohne zu hinterfragen, wie sinnvoll und nutzbringend sie tatsächlich sind.
Es ist ein großes Problem, dass Menschen ohne Behinderung entscheiden, was für Menschen mit Behinderung barrierefrei zu sein hat. Gesetze und Vorschriften über Barrierefreiheit werden von Menschen gemacht, die keine Behinderung haben. Nicht-behinderte Menschen stellen an ihren Schreibtischen fest, ob jemand „behindert genug“ ist, um Hilfsmittel, Förderungen, Pflege etc. zu erhalten. Um das feststellen zu können, gibt es Richtlinien und Vorgaben, die ebenfalls von Menschen erstellt wurden, die keine Behinderung haben. Menschen mit Behinderung werden meist nicht gefragt, vieles wird über ihren Kopf hinweg entschieden.

5. Sei doch froh, heutzutage wird eh schon so vieles für Menschen mit Behinderungen gemacht!
Für Menschen mit Behinderungen muss man also was „machen“. Und dieses „Machen“ ist teuer und kostet viel Geld. Und deshalb müssen Menschen mit Behinderung dankbar sein, wenn für sie etwas gemacht wird.Menschen mit Behinderung sind vielfach Bittsteller, sie müssen darum bitten, bei der Türe reinzukommen (weil davor eine Stufe ist). Sie müssen darum bitten, auf die Toilette gehen zu dürfen (weil es kein barrierefreies WC gibt). Sie müssen darum bitten, von A nach B kommen zu dürfen (weil der öffentliche Verkehr nicht barrierefrei ist). Sie müssen sogar oftmals darum bitten, überhaupt leben zu dürfen (weil sie sonst bereits im Mutterleib abgetrieben werden). Und sie müssen stets dankbar sein. Dankbar, dass sie ein Lokal erreichen können, dass sie es betreten dürfen und dort sogar auf die Toilette gehen dürfen. Weil für sie etwas gemacht wurde. Natürlich ist es teuer, eine Stufe, die vorher gebaut wurde, im Nachhinein zu entfernen. Natürlich ist es teuer, ein barrierefreies WC zu errichten, wo vorher keines war. Das ist aber nicht die Schuld der Menschen, die eine Behinderung haben. Das kommt davon, weil Menschen mit Behinderung nirgends mitgedacht und mitgemeint werden. Weil sie in den Köpfen und Gedanken der „Nicht-Behinderten“ nicht vorhanden sind. Weil sie unsichtbar sind.
6. Inklusion – ja eh, aber …
Inklusion bedeutet, dass alle Menschen – mit und ohne Behinderung – Zugang zu allen Bereichen des Lebens haben, ohne besondere Erschwernisse oder fremde Hilfe. Für mich ist nicht die Behinderung ein Problem, sondern eine Umwelt, die Menschen wie mich von vielen Bereichen ausschließt. Der nicht erreichbare Briefkasten, der Bankomat (genauso wie viele andere Automaten), die Zapfsäule an der Tankstelle, die zu hoch angebrachte Türklingel, eine Veranstaltungen mit Stehtischen, sie alle stehen einer gelungenen Inklusion im Wege.

Menschen mit Behinderung verwenden viel Lebenszeit mit dem Ausfüllen von Anträgen, mit ständigen Rechtfertigungen und Erklärungen, warum sie so sind wie sie sind, mit Recherchen und Organisation (ob und wie z.B. Lokale, Schulen, Arbeitsstätten, Arztpraxen, Verkehrsanbindungen etc. nutzbar und geplante Urlaube, Veranstaltungen, Termine möglich sind). Und sie verwenden viel Lebenszeit mit Warten, auf Termine, auf Auskünfte, auf Rückantworten, auf Bescheide, auf Befunde etc.
Vielfach werden Menschen mit Behinderung in Sonderwelten „abgeschoben“. Sie gehen in Sonderschulen, leben in eigenen Heimen, arbeiten in eigenen Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, weil sie angeblich nur dort die geeigneten Förderungsmöglichkeiten, die passende Pflege und Aufsicht, die baulichen Voraussetzungen etc. vorfinden. Menschen mit Behinderung werden als „zu teuer“, „zu umständlich“, „zu zeitintensiv“, „zu aufwändig“ wahrgenommen. Vielfach stehen ihre Schwächen im Vordergrund, dass sie aber auch Stärken haben, wird nur selten beachtet. Es wird übersehen, dass Menschen mit Behinderung auch Konsumenten, Kunden oder Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber sind, deren Potential nicht genutzt wird und die auch ein Wirtschaftsfaktor sind. Stattdessen wird von ihnen verlangt, Verständnis dafür zu haben, warum dies und jenes nicht möglich, nicht barrierefrei, nicht machbar ist.
Wenn man diese verschwendete Lebenszeit, das ungenutzte Potential und das Verständnis endlich bündeln und gezielt würde, könnte Inklusion schon Alltag sein …