Neulengbach unter Wasser
Die Jahrhundertflut im September 2024 und was bleibt
Ausnahmezustand in Neulengbach – Die Nacht, als das Wasser kam
Im September 2024 erlebte Neulengbach eine Zäsur, deren Spuren lange sichtbar bleiben werden. Über 350 dokumentierte Schadensfälle¹ zeugen von einer Situation, in der viele Menschen ihr Zuhause, ihre Sicherheit oder das Alltägliche vorübergehend verloren. Als das Wasser in Keller, Wohnungen und Straßen eindrang, geriet der gewohnte Rhythmus der Stadt ins Stocken. Gespräche drehten sich plötzlich nicht mehr um Termine, sondern um Pegelstände, Sandsäcke und gegenseitige Unterstützung. Die Erinnerung an diese Tage ist für viele nicht laut, sondern geprägt von Unsicherheit, von Warten und von der Erfahrung, wie sehr in solchen Momenten Gemeinschaft trägt.
Rekordregen:
Mehr als ein Jahrhundert-Hochwasser
Innerhalb von fünf Tagen fielen in und um Neulengbach bis zu 420 Millimeter Regen²˒³ – eine Menge, die üblicherweise für drei Sommermonate reicht. Die Große Tulln, sonst ein ruhiges Gewässer, wurde zum bestimmenden Element des Geschehens. Die Pegel stiegen rasant; in manchen Straßenzügen war das Erdgeschoss innerhalb weniger Stunden nicht mehr erreichbar. Die Werte lagen deutlich über dem Niveau des sogenannten „100-jährlichen Hochwassers“²˒³˒⁴. Über 120 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Auch das kommunale Netz war betroffen: 12 Kilometer Gemeindestraßen, mehrere Brücken, Sportanlagen und das Freibad wurden schwer beschädigt. Die Schadenssumme an privaten, gewerblichen und öffentlichen Liegenschaften im Gemeindegebiet belief sich auf rund 14 Millionen Euro²˒⁵.
Das Klima im Umbruch:
Warum die Flut so heftig ausfiel
Meteorologisch betrachtet handelte es sich um eine seltene Konstellation. Ein sogenanntes Vb-Tief führte feuchte, außergewöhnlich warme Luftmassen vom Mittelmeer nach Niederösterreich. Im Mittelmeerraum wurden im September 2024 Temperaturen gemessen, die zum Teil mehr als sechs Grad über dem Durchschnitt lagen⁶˒⁷. Diese Bedingungen verstärkten die Regenfälle erheblich. Die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis dieser Größenordnung ist laut Klimaforschung heute deutlich höher als noch vor wenigen Jahrzehnten⁸˒⁹.Große Tulln außer Kontrolle
– und kein Halten mehr
Es war die Große Tulln, die das Bild dieser Tage prägte: Bis zu 130 Kubikmeter Wasser pro Sekunde strömten durch das Stadtgebiet – das Zehnfache eines typischen Sommerhochwassers²˒⁵. Der rasche Pegelanstieg führte dazu, dass viele Häuser binnen kurzer Zeit nicht mehr betreten werden konnten. Neben dem Oberflächenwasser bereitete auch das Grundwasser Probleme: Zahlreiche Keller liefen erst mit Verzögerung voll, weil das Wasser von unten nachdrückte.
Feuerwehr, helfende Hände
und gelebte Nachbarschaft
Über 1.000 Einsatzkräfte und freiwillige Helfer*innen waren in und um Neulengbach im Einsatz – ein Rekord. Über 10.000 Sandsäcke wurden innerhalb eines Tages gefüllt und verbaut.
Das Seniorenheim am Stadtrand musste evakuiert werden. Schulen, Kindergärten, Sportplätze – vieles blieb tagelang geschlossen oder war schwer beschädigt[4][9].
Doch bei aller Verunsicherung zeigte sich auch die Kraft der Gemeinschaft: Nachbarn halfen einander, Notunterkünfte wurden in der Volksschule eingerichtet, Spenden und psychologische Unterstützung waren sofort verfügbar[4].
Wirtschaft und Überflutung
Wenn der Alltag im Wasser steht
Das Hochwasser 2024 traf die lokale Wirtschaft schwer. Landwirtschaftliche Flächen standen tagelang unter Wasser, Ernteausfälle und Bodenerosion führten zu hohen Verlusten und zerstörten teilweise ganze Existenzen. Im Gewerbe- und Dienstleistungsbereich wurden zahlreiche Lager, Maschinen und Geschäftsflächen beschädigt; die Schadenssumme lag laut Gemeinde und Landesregierung bei mehreren Millionen Euro²˒⁵. Viele kleine Unternehmen verzeichneten massive Umsatzeinbrüche, mussten wochenlang schließen oder ihren Betrieb ganz einstellen[4]. Die Beantragung von Fördermitteln und Versicherungsleistungen erwies sich als schwierig und langwierig; vielfach blieb nur der Rückgriff auf Eigenmittel oder Kredite. Auch nachgelagerte Bereiche wie Mühlen, Direktvermarkter und Landtechnik litten unter Folgeschäden – von Bodenauswaschungen bis zu Saatgutverlust und seuchenbedingten Risiken²˒⁵. Zwar wurden rasch erste Hilfsmaßnahmen wie Steuererleichterungen und Notkredite gesetzt, doch der wirtschaftliche Neustart bleibt ein langwieriger Prozess – vor allem in ländlichen Gemeinden, die vom Klimarisiko besonders betroffen sind[8][10].
Resümee: Was bleibt von der Flut?
Viele stellen sich seither neue Fragen:
Wie kann eine Stadt wie Neulengbach sich besser schützen? Was tun, wenn das Unvorstellbare wieder passiert? Welche Rolle spielt unser Umgang mit Natur und Klima?
Was feststeht:
- Technik und Schutzbauten sind wichtig – aber sie allein reichen nicht.[2][7][8]
- Naturnahe Lösungen wie begrünte Flächen, Renaturierung der Ufer und weniger Versiegelung helfen, Wasser besser aufzunehmen und Schäden zu mindern.[7][10]
- Warnsysteme und schnelle, verständliche Kommunikation retten Leben und Hab und Gut.[1][9]
- Der Zusammenhalt in der Nachbarschaft ist unverzichtbar: Wer auf ein Netzwerk bauen kann, kommt besser durch die Krise.[4]
- Prävention und Anpassung sind Gemeinschaftsaufgaben, die alle betreffen – von der Gemeinde bis zum einzelnen Haushalt.[8][10]
Es geht nicht um Schuldzuweisungen oder Patentrezepte. Die Flut hat gezeigt, wie verletzlich eine Stadt sein kann – aber auch, wie stark sie werden kann, wenn sie zusammenhält.
Neulengbach ist im September 2024 über sich hinausgewachsen. Die Bilder von damals werden bleiben – aber auch das Bewusstsein, dass aus der Katastrophe Mut, Zusammenhalt und der Wille zum Wandel erwachsen können.
Fußnoten/Bibliographie
- Amt der NÖ Landesregierung (WA2 – Wasserwirtschaft): Vorläufige hydrologische Analyse zum Hochwasserereignis 12.–20. September 2024 in Niederösterreich, Oktober 2024. https://www.noe.gv.at/noe/Wasser/Vorlaeufige_Analyse_Hochwasser_Sept2024_Hydro_web.pdf
- Themenseite Hochwasser September 2024, Amt der NÖ Landesregierung: https://www.noe.gv.at/noe/Wasser/Hochwasser_September_2024.html
- Freiwillige Feuerwehr Neulengbach: Einsatzbericht Hochwasser 13.–15. September 2024. https://www.ff-neulengbach.at/berichte/einsatzbericht/1309
- MeinBezirk.at (Lauren Seywald): Rund 350 Schadensfälle in Neulengbach. MeinBezirk.at, September 2024. https://www.meinbezirk.at/wienerwaldneulengbach/c-lokales/rund-350-schadensfaelle-in-neulengbach_a6963002
- GeoSphere Austria: Klimatologische Analyse des Niederschlagsereignisses September 2024, 2024. https://www.zamg.ac.at/cms/de/klima/news/klimatologische-analyse-september2024
- Deutscher Wetterdienst (DWD): Besondere Wetterereignisse – Hochwasser Mitteleuropa September 2024. 23. September 2024. https://www.dwd.de/DE/leistungen/besondereereignisse/niederschlag/20240923_hochwasser_osteuropa.pdf
- World Weather Attribution (WWA)/Reuters: Climate change doubles chance of floods like those in Central Europe – study. Reuters/WWA, 25. September 2024. https://www.reuters.com/business/environment/climate-change-doubles-chance-floods-like-those-central-europe-report-says-2024-09-25/
- Technische Universität Wien: Das Septemberhochwasser 2024 – Was lernen wir daraus? TU Wien, Fakultät für Bauingenieurwesen, Oktober 2024. https://www.tuwien.at/alle-news/news/das-september-hochwasser-was-lernen-wir-daraus
- ORF Niederösterreich: NÖ zum Katastrophengebiet erklärt – Flüsse über die Ufer. ORF.at, 15. September 2024. https://noe.orf.at/stories/3273109/
- EVN Wasser GmbH / Österreichische Gesellschaft für Hydrologie (ÖGH): Brandl, Helmut: Erfahrungen aus dem Extremniederschlagsereignis September 2024 – Wasserwirtschaftliches Krisenmanagement bei EVN Wasser. Vortrag bei der ÖGH-Jahrestagung, Wien, 20. Mai 2025. https://www.oegh.ac.at/fileadmin/oegh_pdfs/BRANDL_EVN_OEGH_2025.pdf
