Ein langer Weg der Bewältigung
Auch ein Jahr später sind die Folgen spürbar:
Was bleibt, wenn das Wasser geht
Normale Reaktionen auf außergewöhnliche Ereignisse
Nicht nur die Landschaft wurde überschwemmt – auch viele Seelen der Betroffenen wurden von dem Erlebten überflutet. Das eigene Zuhause, sonst ein Ort der Sicherheit, wurde zum Symbol der Unsicherheit.
Die psychischen Auswirkungen eines solchen Ereignisses sind höchst individuell. In den ersten Wochen litten viele Menschen unter Stresssymptomen: Schlafstörungen, Panikattacken, Gedankenkreisen, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhte Schreckhaftigkeit. Bei einigen klangen diese Symptome nach Wochen oder Monaten ab – bei anderen jedoch blieben sie bestehen.
Typische Traumafolgesymptome zeigten sich: eine anhaltende Übererregung, ständige innere Alarmbereitschaft, körperliche Anspannung, Reizbarkeit, Erschöpfung sowie negative Gedanken und Grübelschleifen. Auslöser („Trigger“) wie Nachrichten über Überschwemmungen, bestimmte Gerüche – etwa von nasser Erde – oder Geräusche, die an das Hochwasser 2024 erinnern, können die belastenden Empfindungen erneut hervorrufen. Dies kann dazu führen, alles zu vermeiden, was an das Erlebte erinnert.
Auch wenn diese Reaktionen für einen selbst oft irritierend und schwer nachvollziehbar sind, sind sie völlig normale Antworten auf extreme Ereignisse. Wie gut ein Mensch solche Ereignisse verarbeitet, hängt von vielen individuellen Faktoren ab: vom Ausmaß der Zerstörung, der Bedrohung der eigenen Existenz, der Evakuierungserfahrung, der persönlichen Widerstandsfähigkeit („Resilienz“) – aber auch von der Reaktion und dem Verständnis des sozialen Umfelds.
Wir sitzen im selben Boot
In einer Gesprächsrunde für Hochwasserbetroffene in Neulengbach wurde deutlich, wie heilsam und entlastend der Austausch für viele ist. Die Teilnehmenden berichteten von ihrer persönlichen Unsicherheit, Trauer und dem mühsamen Versuch, den Alltag zu bewältigen – einem Alltag, der nicht mehr derselbe war. Gleichzeitig wurde der Wunsch spürbar, wieder nach vorne zu blicken und neue Perspektiven zu entwickeln. Für viele war es das erste Mal, dass sie offen über das Erlebte sprechen konnten. Die Erkenntnis, mit den eigenen Gefühlen nicht allein zu sein, wirkte entlastend.
Gleichzeitig zeigte sich, wie unterschiedlich Menschen mit der Krise umgehen: Manche fanden rasch ihren Weg zurück in den Alltag – bei anderen wurde erst im Laufe der Zeit deutlich, wie sehr sie das Erlebte belastet.
Kinder im Blick behalten
Auch Kinder waren stark betroffen. Sie verloren nicht nur ihre Spielsachen, sondern mussten auch zusehen, wie geliebte Dinge weggeschafft und entsorgt wurden. Die Einsätze von Hilfskräften, Sirenen, Blaulicht – und nicht zuletzt die Ängste der Erwachsenen – waren für sie oft schwer einzuordnen.
Umso wichtiger war und ist es, Kindern Räume zu eröffnen, in denen sie kindgerecht über das Erlebte sprechen, Fragen stellen und auf ihre Weise verarbeiten dürfen. Noch heute fragen manche, ob das Hochwasser wiederkommt, sobald es länger regnet.
Tabuthema psychische Unterstützung
Trotz zunehmender Aufklärung über die psychischen Folgen von Naturkatastrophen ist das Thema über psychische Belastungen zu sprechen noch immer tabuisiert – besonders, wenn es einen selbst betrifft. Manche finden keine Worte dafür, andere schweigen aus Scham oder aus Angst, nicht ernst genommen zu werden.
Doch für eine gesunde Verarbeitung braucht es Zeit, Verständnis – und nicht selten professionelle Unterstützung. Gespräche mit anderen Betroffenen, psychosoziale Hilfsangebote und langfristige Betreuung können helfen, traumatische Erlebnisse zu verarbeiten und neue Wege zu finden.
Außen aufgeräumt – innen noch nicht
Während im September 2024 vielerorts rasch mit dem Wiederaufbau begonnen wurde, Straßen, Gebäude und Freizeitanlagen nach und nach saniert wurden, herrscht in vielen privaten Haushalten nach wie vor Ausnahmezustand.
Trocknungsgeräte laufen noch immer in Kellern, Kartons stehen unverstaut in Wohnzimmern, in manchen Gärten liegen die aufgeweichten Holzpellets. Neben Beruf und Familienleben ist das Hochwasser für viele weiterhin täglicher Begleiter. Der „normale“ Alltag hat noch nicht wieder Einzug gehalten – und die psychischen Belastungen hinterlassen oft für Außenstehende unsichtbare Spuren.
Was hilft?
In erster Linie: mit sich selbst verständnisvoll und geduldig umgehen. Achtsamkeit im Alltag, regelmäßiges Essen, ausreichend Schlaf und kleine Rituale, die Körper und Seele stärken, können helfen. Für manche bedeutet das: Bewegung in der Natur. Für andere: kreatives Arbeiten, Musik oder Zeit mit Tieren. Entscheidend ist, wieder ins „Hier und Jetzt“ zu finden.
Auch ein bewusster, wohldosierter Umgang mit Medienberichterstattung und Social Media ist wichtig – insbesondere dann, wenn Inhalte emotional aufwühlen.
In Zeiten der Ohnmacht helfen kleine Schritte zurück zu Orientierung und Struktur. Routinen geben Halt. Das Erleben von Selbstwirksamkeit – sei es durch das Wiederaufnehmen eines Hobbys oder das Strukturieren des Alltags – ist ein wichtiger Teil der Bewältigung.
Studien zeigen deutlich: Soziale Beziehungen haben eine enorm heilsame Wirkung. Die Welle der Solidarität in der Region war beeindruckend – Feuerwehr, Hilfsorganisationen, Freund:innen, Verwandte und vor allem die Nachbarschaft standen einander zur Seite. Diese Erfahrung von gegenseitiger Unterstützung hat viele enger zusammengeschweißt. Aber auch das einfach „nur da sein“ und Verständnis zeigen, erweist sich als sehr hilfreich.
Eine gesellschaftliche Aufgabe
Es ist an der Zeit anzuerkennen, dass die psychosozialen Folgen von Naturkatastrophen wie dem Hochwasser keine rein privaten Probleme sind – sie betreffen ganze Gemeinden, Regionen und unsere Gesellschaft als Ganzes.
Klimabedingte Naturereignisse wie Hochwasser werden in Zukunft häufiger. Damit nehmen auch die psychischen Belastungen zu. Die daraus entstehenden Herausforderungen sind nicht nur individuell, sondern auch humanitär und gesellschaftspolitisch relevant.
Es braucht flächendeckende, leistbare und gut erreichbare Unterstützungsangebote. Und vor allem: einen offenen Umgang mit psychischen Belastungen – frei von Tabus. Nur so kann eine resiliente, solidarische und zukunftsfähige Gesellschaft entstehen.
Gedicht von Erich Fried
Sein Unglück
ausatmen können
tief ausatmen, so dass man wieder einatmen kann
Und vielleicht auch sein Unglück
sagen können in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte
Und weinen können
das wäre schon fast wieder Glück
Unsere Gastautorin
Klinische und Gesundheitspsychologin und Psychotherapeutin (systematische Psychotherapie) mit Weiterbildungen in Traumatherapie, freiberuflich in der Gemeinschaftspraxis Manipura in Maria Anzbach, angestellt in einer Suchthilfeeinrichtung in Wien, Leiterin der Gesprächsrunde für Hochwasserbetroffene in Neulengbach, 2024
