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Einleitung und Kontext durch die Redaktion

Dieser Artikel wurde erstmals in der ÖGZ 2/2025 veröffentlicht: www.staedtebund.gv.at/oegz/aktuelle-oegz-ausgaben. Die Veröffentlichung in der Elsbeere erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der ÖGZ.

Mit ihrem Beitrag „Gesellschaftliche Teilhabe und Zersiedelung“ erweitert Anna Brenner den Blick auf eine räumliche Dimension, die in den gängigen Debatten über Leerstand und soziale Teilhabe häufig ausgeblendet bleibt. Während sich unsere anderen Beiträge in der Elsbeere vorrangig mit innerstädtischen Leerstellen und den Möglichkeitsräumen sogenannter Dritter Orte befassen, richtet Brenner die Aufmerksamkeit auf ein oft übersehenes Terrain: die Zwischenräume.

Zwischenräume sind Gebiete, die zwischen städtischen Zentren und ländlichen Regionen liegen. Sie entziehen sich einer eindeutigen funktionalen Zuordnung und stellen zugleich besondere Herausforderungen für Planung und soziale Infrastruktur dar. In diesen Räumen ist die Zersiedelung besonders stark ausgeprägt – etwa 50 % der Flächen gelten als hoch oder sehr hoch zersiedelt. Dies erschwert den Zugang zu zentralen Einrichtungen und lässt jene dichte Alltagsinfrastruktur vermissen, die in urbanen Kontexten als Grundlage für Begegnung, Teilhabe und Gemeinschaft fungiert.

Gerade für Orte wie Neulengbach, die sich zwischen Verdichtung und Zerstreuung bewegen, ist dieser Blick auf die Zwischenräume von hoher Relevanz. Brenner zeigt, dass in diesen Zonen weder die Stabilität des Ländlichen noch die Nähe des Urbanen greift – es entstehen Leerstellen, die nicht nur räumlich, sondern auch sozial schwer zu fassen sind. Wo öffentliche Räume fehlen, fehlt oft auch die Möglichkeit, sich als Teil einer Gemeinschaft zu begreifen.

Wir haben diesen Beitrag ausgewählt, weil er Leerstand nicht als isoliertes Phänomen städtischer Entwicklung beschreibt, sondern in einen umfassenderen raumstrukturellen Zusammenhang einordnet. Brenner macht sichtbar, wie tief räumliche Bedingungen mit sozialer Teilhabe verknüpft sind – und liefert einen wertvollen Impuls für alle Kommunen, die sich nicht mit einem schleichenden Funktionsverlust abfinden wollen, sondern aktiv an einer inklusiven Raumpolitik arbeiten. (Die Redaktion)

Gesellschaftliche Teilhabe und Zersiedlung

Die Zersiedlung ist in den vergangenen 45 Jahren in Österreich stark gestiegen und schränkt die gesellschaftliche Teilhabe in Österreich – vor allem für Frauen – massiv ein. Es braucht Gegenmaßnahmen.Zersiedlung ist die räumliche Ausbreitung von Siedlungen in die Landschaft außerhalb kompakter Siedlungsstrukturen und in geringer Dichte. Charakteristisch für Zersiedlung sind das freistehende Einfamilienhaus sowie großflächige Gewerbegebiete und Einkaufszentren.

Die Zersiedlung, als ein räumliches und soziales Phänomen, kann quantitativ erfasst werden. Sie errechnet sich aus dem Anteil der überbauten Fläche, der räumlichen Streuung der bebauten Fläche und der Nutzungsdichte je Flächeneinheit.

In unserer Studie haben wir uns aktuelle hochauflösende, räumlich explizite Satellitendaten (GHSL Data Package P2023) zunutze gemacht und das erste Mal für Österreich die Veränderung der Zersiedlung zwischen 1975 und 2020 berechnet (Brenner et al. 2024).

Die Zersiedelung hat in Österreich zwischen 1975 und 2020 rapide zugenommen. Im Jahr 2020 sind 46 % der Flächen hoch oder sehr hoch zersiedelt (siehe Abb. 1).

Regionale Unterschiede

Der Grad der Zersiedlung weist regionale Unterschiede auf. Basierend auf der Dichte und dem Bevölkerungspotenzial, der Ausstattung mit grundlegenden Infrastrukturen, dem Anteil der Erwerbsauspendler:innen und der Distanz mit dem Auto zum nächsten Zentrum unterscheidet die Statistik Austria verschiedene regionale Typen (UrbanRuralTypologie Statistik Austria).

Es zeigt sich, dass die Zersiedlung in urbanen Mittel- und Kleinzentren, regionalen Zentren und ländlichen Räumen mit zentraler Anbindung an urbane Zentren – kurz: in den Räumen zwischen urbanen Zentren und Land – am stärksten ausgeprägt ist. Hier liegt der Anteil der hoch und sehr hoch zersiedelten Flächen im Jahr 2020 bei 50 %.

Auch in den urbanen Großzentren (Städte und umliegende Gemeinden mit hohem Bevölkerungspotenzial) hat die Zersiedlung zwischen 1975 und 2020 stark zugenommen. Hier hat sich der Anteil der hoch und sehr hoch zersiedelten Flächen fast verdoppelt.

In ländlich geprägten Gemeinden ist das Wachstum der hoch und sehr hoch zersiedelten Flächen in diesem Zeitraum noch rasanter vonstattengegangen. Im Jahr 2020 ist die Zersiedlung in diesen Gebieten jedoch nicht so stark ausgeprägt wie in den Zwischenräumen.

Zusammenfassend lässt sich sagen:
Die Zersiedlung hat sich in Österreich überall zwischen 1975 und 2020, aber besonders eklatant in den Räumen zwischen urbanen Zentren und Land – fast lehrbuchmäßig – ausgebreitet.

Abbildung 1 und 2: Räumlich explizite Darstellung des Grads der Zersiedlung für die Jahre 1975 und 2020 für Österreich. Der Grad der Zersiedlung ist in fünf Klassen eingeteilt: Hellgelb und Gelb zeigen Flächen mit einer sehr geringen oder geringen Zersiedlung, orange Flächen sind moderat zersiedelt, Rot und Dunkelrot weisen auf Flächen hin, die hoch oder sehr hoch zersiedelt sind. Die Grenzwerte zur Einteilung des Grads der Zersiedlung in Klassen basieren auf Martin Behnisch, Tobias Krüger und Jochen A. G. Jaeger. (2022).

Grafik Anna-Katharina Brenner

Gesellschaftliche Teilhabe erschwert

Ein hoher Grad der Zersiedlung erschwert die gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen, die kein Auto haben oder deren Wege – neben dem Zweck, den Arbeitsort zu erreichen – multipler gestaltet sind. Das betrifft insbesondere ältere Menschen, Kinder und Jugendliche und Menschen, die Care-Arbeiten verrichten. Das sind in Österreich immer noch überwiegend Frauen.Die Erreichbarkeit des nächsten Zentrums ist in zentral und intermediär gelegenen Räumen zumeist in mindestens 30 Autominuten gegeben (Statistik Austria).

Die sternförmige Anordnung des Straßennetzes in zersiedelten Strukturen, unter linearen Anbindungen an das hochrangige Verkehrsnetz, ermöglicht es Erwerbsauspendler:innen, schnell und unkompliziert von ihrem Wohnort zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen.

Menschen, die auf dem hochrangigen Straßennetzwerk unterwegs sind, sind jedoch in der Regel nicht auf dem Weg, den vergessenen Turnbeutel in die Schule zu bringen, das Rezept von der Apotheke abzuholen oder zwischen zwei anderen Wegen noch schnell bei der zu pflegenden Person vorbeizuschauen.

Tätigkeiten wie Kinder in die Schule bringen, alte Menschen pflegen und einkaufen verlaufen oft nicht linear, die Wege sind eher konzentrisch angeordnet (Diehl und Reich, 2023). Daher legen Frauen oft mehr und kürzere Wege zu verschiedenen Destinationen zurück.

Ist die Versorgung durch Kinderbetreuungseinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten, Arbeitsplatz und gesundheitliche Versorgung nicht in kurzer Distanz gegeben, wird die Organisation von Erwerbstätigkeit und die Versorgung anderer zu einer logistischen und auch zeitlichen Herausforderung (Diehl und Reich, 2023).

Ohne ein Auto ist diese Herausforderung oft nicht zu meistern. Aber auch mit dem Auto ist ein Alltag zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit in zersiedelten Strukturen mit einem wesentlichen Mehraufwand verbunden. Nicht jede:r kann sich ein (Zweit-)Auto leisten. Das schränkt die autonome Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wesentlich ein.

Der alltägliche Weg in den Supermarkt kann nur noch durch die Hilfe anderer Personen bewerkstelligt werden. Kann ein Auto genutzt werden, führt der Mehraufwand zu einem Zeitverlust – eine Zeit, die an anderer Stelle fehlt und sich negativ auf gesellschaftliche Teilhabe und Erholung auswirken kann. Weil ein Großteil dieser Tätigkeiten unbezahlt ist, bleibt dieses Phänomen oft unsichtbar.

Fazit: Es braucht räumliche Strukturen, die eine gesellschaftliche Teilhabe aller ermöglichen

Mit unserer Studie konnten wir zeigen, dass sich die Zersiedlung in Österreich in den letzten 45 Jahren rapide ausgebreitet hat. Die Zwischenräume von urbanen Zentren und Land sind heute – fast lehrbuchartig – am stärksten von Zersiedlung betroffen.

Das Fehlen von zentralen Infrastrukturen, die in kurzen Distanzen erreicht werden können, sowie die Ausrichtung der Mobilitätsinfrastruktur an den Bedürfnissen der Erwerbspendler:innen schränken die gesellschaftliche Teilhabe von allen Menschen ein, die kein Auto besitzen oder deren Wegstrecken und Destinationen heterogener sind.

Es braucht eine Versorgung mit zentralen Infrastrukturen in kurzen Distanzen zum Wohnort. Können Wege vermehrt zu Fuß, mit dem Rad oder mit dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt werden, kann damit auch ein zentraler Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden.

Nicht in allen Gemeinden ist das praktikabel oder umsetzbar. Ein Schritt in Richtung räumlicher Strukturen, die eine gesellschaftliche Teilhabe aller ermöglichen, wäre es zum Beispiel, Gebiete zu identifizieren, die sich besonders gut für eine kompaktere Raumstruktur eignen, weil sie zum Beispiel bereits an den ÖPNV angeschlossen sind.

Hier könnten Bemühungen intensiviert werden, die Versorgung mit zentralen Infrastrukturen – Kinderbetreuungseinrichtungen, ärztliche Versorgung, Nahversorgung mit Lebensmitteln und Alltagsgebrauchsgegenständen und Arbeitsplätzen – in möglichst kurzer Distanz zum Wohnort bereitzustellen.

Die Erschaffung von Co-Working-Spaces in zentraler Lage kann für einige Menschen eine Möglichkeit sein, ihren Arbeitsort – zumindest für bestimmte Tage in der Woche – in die Nähe ihres Wohnorts zu verlagern. Geschäfte und Gasthäuser vor Ort könnten davon profitieren. Im privaten Bereich könnte die dadurch entstehende Zeiteinsparung helfen, die Care-Arbeit gerechter aufzuteilen.

Jede Gemeinde zeichnet sich durch spezifische charakteristische lokale Gegebenheiten aus. Für eine soziale und ökologische Transformation dieser Räume sollten diese und die Bedürfnisse der Menschen vor Ort in die Umgestaltung miteinbezogen werden.

Gleichzeitig braucht es übergeordnete, rechtlich bindende und quantitativ verifizierbare Zielvorgaben, die einer weiteren Ausbreitung der Zersiedlung in Österreich entgegenwirken – wie zum Beispiel eine Tagesobergrenze des Bodenverbrauchs.

Abbildung 3: Anteil des Grads der Zersiedlung nach verschiedenen Raumtypen im Zeitvergleich zwischen 1975 und 2020. Raumtypen basieren auf UrbanRuralTypo logie der Statistik Austria (Statistik Austria. 2021). Basierend auf der Verteilung des Grads der Zersiedlung sind folgende Typologien zusammengefasst worden: Zwischenräume (Urbane Mittel/Kleinzentren, Regionale Zentren und Ländlicher Raum im Umland von Zentren in zentraler und intermediärer Lage). Ländliche Räume (Umland von Zentren in periphere Lage und Ländlicher Raum mit schwacher funktionaler Verflechtung). Die Grenzwerte zur Einteilung des Grads der Zersiedlung in Klassen basieren auf Martin Behnisch, Tobias Krüger und Jochen A. G. Jaeger. (2022)

Grafik Anna-Katharina Brenner

Weiterführende Literatur

  • Anna Katharina Brenner, Tobias Krüger, Helmut Haberl, Gernot Stöglehner und Martin Behnisch. 2024. Rapider Anstieg der Zersiedelung in Österreich von 1975 bis 2020. Eine räumlich explizite Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Wohnbevölkerung. Vol. 198. Social Ecology Working Papers. Vienna: Institute of Social Ecology Vienna.
  • Katja Diehl und Doris Reich. 2023. Autokorrektur: Mobilität für eine lebenswerte Welt. Frankfurt am Main: FISCHER Taschenbuch.
  • Karoline Mayer, Katharina Ritter, Angelika Fitz und Architekturzentrum Wien (Hrsg.). 2020. Boden für Alle. Zürich: Park Books.
  • Gernot Stöglehner. 2024. Rettet die Böden: ein Plädoyer für eine nachhaltige Raumentwicklung. Wien: Falter Verlag.
  • Statistik Austria. 2021. UrbanRuralTypologie von Statistik Austria. www.statistik.at/atlas/mapid=topo_regionale_gliederung_oesterreich&layerid=layer2&sublayerid=sublayer4 &languageid=0&bbox=1002541,5798226,2176614,6360191,8
  • Martin Behnisch, Tobias Krüger und Jochen A. G. Jaeger. 2022. „Rapid Rise in Urban Sprawl: Global Hotspots and Trends since 1990“. PLOS Sustainability and Transformation 1 (11): e0000034 https://doi.org/10.1371/journal.pstr.0000034
Grafiken Anna-Katharina Brenner

Fotos Maria Hörmandinger und 360° Neulengbach

Über unsere Gast-Autorin

Dr. in Anna-Katharina Brenner forscht zu räumlichen Strukturen und sozialökologischer Transformation am Leibniz Institut für ökologische Raumentwicklung, Dresden. Zurzeit ist sie als Gastwissenschaftlerin am Institut für Soziale Ökologie an der BOKU tätig.
Foto Credits Lina Sailer
veröffentlicht am 07.04.2025